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Samstag, 2. Juli 2016

Vaters Tod

Der Vater starb im November, am Volkstrauertag. Das war seine Art von Humor. Drunter hätte er es nicht getan.

Die Benachrichtigungs-Mail an mich am Tag darauf war kürzer als ein Tweet:
Betreff: Zur Info
Hallo mo jour,
gestern ist der Vater gestorben.
Ich weiß nicht, ob Du's wissen willst.
Schwester

Kurz und knapp. Kein wann, kein wo, kein wie. So ist das halt in unserer kranken, kaputten Familie.

Woran war er gestorben? War er krank gewesen? Hatte er lange leiden müssen? Warum hatten sie mich nicht vorher informiert, dass es zu Ende ging? Hatte er mich denn wirklich gar nicht mehr sehen wollen?

Mit der Schwester habe ich seit mehr als zehn Jahren keinen Kontakt, den Vater seit mehr als vier Jahren nicht gesehen. Auf meinen letzten Brief hatte er nie reagiert. Nun war er tot. Natürlich wollte ich das wissen.

Die Nachricht erreichte mich am anderen Ende des Kontinents, mein erster Urlaub seit Jahren, vierzehn unbeschwerte, sonnig warme Tage am südöstlichen Mittelmeer in der Türkei hatten es werden sollen.

Gedenkstein für den Vater
Ich war eher genervt als überrascht. Menschen sterben nun mal irgendwann. Der Vater war 83 Jahre alt geworden. Ein gesegnetes Alter. Nun hatte er den Planeten verlassen. Aber musste das ausgerechnet jetzt sein? Das war nicht der erste Urlaub, den er mir verdorben hatte, jetzt auch noch einen im Abgang.

Die Sonne schien unverändert. Das Meer war unverändert blau. Mein Urlaub … ging einfach weiter.

Meine Trauer um den alten Mann war nicht sonderlich groß. Ich hatte ihn nie gemocht. Als Kind hatte ich Angst vor ihm, vor seiner mich überfordernden Gleichgültigkeit, vor seiner schmerzhaft sarkastischen Ironie.

Er wollte niemals wissen, wer ich wirklich war oder geworden bin, sondern hat mich – wie auch die Mutter – immer nur abgeglichen mit seiner Schablone von der bestmöglichen Idealtochter. Schließlich war ich ein „Wunschkind“ - also hatte ich dem Wunschbild gefälligst zu entsprechen. Leider war ich niemals gut genug.

Ich rächte mich auf meine Weise: Wenn ich ihm als Tochter nicht gut genug war, dann war eben auch er als Vater für mich ungenügend. Ich verwandelte meine Angst vor ihm in widerwilligen Ekel, später in Hass. In meinen Augen war er ein furzender Fettsack, übergriffig und peinlich.

Natürlich hatte ich ein schlechtes Gewissen, denn als „gute Tochter“ hätte ich ihn ja lieben können müssen. Es ging nicht. Im Fach „Vaterliebe“ versagte ich kläglich.

Dabei waren wir uns wohl ziemlich ähnlich. Man hatte mich schon als kleines Mädchen zur „Vatertochter“ erklärt. Jedes Mal, wenn die Mutter das zu mir sagte, hasste ich den Vater noch ein Stück mehr. Er war Schuld, dass ich keine Mutter hatte. Denn aufgrund meiner – zunächst äußerlich erkennbaren – Ähnlichkeit mit dem Vater schien sie sich für mich nicht mehr zuständig zu fühlen, wandte sich lieber der jüngeren Schwester zu, die mehr ‚ihr Ebenbild‘ war.

Meine Ähnlichkeit zum Vater war nicht nur äußerlich. Vermutlich habe ich seinen Genen nicht nur mein blitzgescheites Hochleistungshirn zu verdanken, sondern auch sämtliche „autistischen“ Züge, diese entsetzliche Empfindsamkeit, das lästig schnelle Verletzt- und Gekränktsein. Wir haben nie darüber gesprochen. Damals wusste ich das noch nicht, und der Vater hatte vermutlich selbst keine Ahnung, was er da an der Backe und mir vererbt hatte.

Er war Kriegskind und Kriegsenkel, beides zugleich. Auch was es damit auf sich hat, lernte ich selbst erst vor kurzem. Seine Stukas zerbomben meine Alpträume bis heute.

Wir haben die ersten achtzehn Jahre meines Lebens in derselben Wohnung verbracht, aber wir kannten uns nicht.

Als mich die Nachricht von seinem Tod erreicht, im Urlaub am Meer, nach dem Abendessen, bin ich dennoch sehr traurig und verwirrt.

Die Tränen rinnen mir pausenlos übers Gesicht. Dabei trauere ich gar nicht so sehr um den Vater – er war ja schon seit Jahrzehnten nicht mehr in meinem Leben. Ich trauere bis heute über die verpasste Gelegenheit: Endgültig die Chance vertan, vielleicht doch noch einmal einen Menschen in meinem Leben zu haben, der die Bezeichnung „Vater“ auch nur ansatzweise verdient hätte. Endgültig nun die Gewissheit, dass das niemals gut werden wird mit uns. Dabei hatte ich es so oft versucht und mir immer wieder aufs neue Mühe gegeben. Vergeblich. Er wohl auch, vermutlich, auf seine unbeholfene Art. Ebenso vergeblich. Wir fanden nicht zueinander.

Ich trauere um mich, um das nicht gesehene Mädchen, das sich immer und immer im Leben so verlassen, so hoffnungslos verloren fühlt, ein emotionales Waisenkind von Anfang an. Selbst jetzt noch, mit halbe Hundert plus – und keine Rettung in Sicht.

Es kam nicht in Frage, dass ich meinen Urlaub abbrach. Jetzt war sowieso nichts mehr zu retten. Aber eine Abschiedszeremonie musste her, irgendwie musste ich meinen Schmerz verknuspern, wenn ich die restlichen Tage meiner Reise noch ansatzweise genießen und Kraft für meinen deutsch-anstrengenden Alltag sammeln wollte.

Also machte ich eine Pilgerfahrt mit dem Bus nach Side zum großen Heiligtum, zum Tempel des Apollon, Gott der Heilung und des Lichts. Einen kreisrunden Kieselstein hatte ich gefunden, ganz gleichmäßig und von schönem Silbergrau: handtellergroß wie ein Hamburger, porös war er wie ein Bims und fühlte sich ganz weich an.

Ich wusste, dass auch der Vater in der antiken Hafenstadt gewesen war, den Tempel kannte und den Ort direkt am Wasser mit der schönen Aussicht ins grenzenlose Blau sicher gemocht hatte.

Ein guter Platz in meinen Augen, an dem ich all meinen Schmerz lassen und loslassen konnte: Der löcherige Gedankenstein würde all meine Tränen aufsaugen wie ein Schwamm, ganz egal wo ich war, von woher auch immer ich ihm meinen Kummer sandte.

Den Vaterstein legte ich – geschmückt mit einem ‚blauen Auge‘ gegen den bösen Blick und einem roten Bougainvilleenzweig – Apollon zu Füßen auf eine der Portalsäulen.

Dort ließ ich meinen Vaterschmerz, dorthin denke ich ihn bis heute, wenn mir die Tränen wieder einmal hochkommen.

Gleich neben Apollon stand der größere Temple für Athene. Zu der ging ich hinüber nach meiner kleinen Abschiedszeremonie, brachte ihr eine duftende Rose – und wir palaverten von Frau zu Frau wie das so ist, mit den Vätern, dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest.

Zur Stärkung der Mitte gab es frischen Pflaumenkuchen mit Buttercreme im Kaffeehaus am Fluss.

Es war sehr still, sehr friedlich und sehr gelassen in mir, als ich mich erschöpft auf den Rückweg machte.

Das war bei weitem nicht meine erste Schattenarbeit, und ich bin noch lange nicht fertig.