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Januar 2021

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Mittwoch, 14. Oktober 2015

Rostock hilft

Seit Anfang September kommen auch hier im Nordosten der Republik vermehrt flüchtende Menschen aus verschiedenen Ländern an. Sie haben ihre Heimat in Afghanistan-Eritrea-Irak-Syrien-Tschetschenien-Ukraine verlassen, sind geflohen vor Krieg und anderen lebensbedrohlichen Zuständen.

Mehrere Hundert sind es täglich allein in Rostock. Genaue Zahlen gibt es nicht. Die Ankünfte sind nicht vorhersehbar, nichts ist planbar. Viele treffen am Rostocker Hauptbahnhof ein, kommen über Hamburg. Viele von ihnen sind 'nur' auf der Durchreise, möchten weiter nach Skandinavien: Vom Rostocker Überseehafen aus legen Fähren nach Dänemark, Schweden und Finnland ab.

Tor zur Welt:
'Flüchtige' Fähre zwischen den Molen von Warnemünde

Die Flüchtenden-Ankommenden-Weiterreisenden angemessen zu versorgen mit Informationen, Verpflegung, Unterkunft, Kleidung, medizinischer Versorgung, Transport, Fahrkarten und anderen Not-Wendenden Ressourcen ist eine nicht nur logistische Herausforderung, die es in sich hat.

Ungezählte haupt- und ehrenamtliche Helfer*innen sind engagiert dabei, u.a. das Deutsche Rote Kreuz Rostock mit Not- und Transitunterkünften, das Ökohaus Rostock mit den offiziellen Flüchtlingsunterkünften; auch die Stadt Rostock hat (etwas spät, aber doch) Anfang Oktober eigens ein neues 'Amt für Flüchtlingsangelegenheiten und Integration' eingerichtet.

Eine Initiative, die mich besonders fasziniert, ist „Rostock hilft“. Unter dem Motto "Freedom of movement is everybodies right!" werden die geflohenen Frauen, Männer und Kinder schnell und unbürokratisch auf jede nur denkbare Weise unterstützt.

Logo der Hilfsplattform
Rostock hilft

Wie an vielen anderen Orten in Deutschland ist auch 'Rostock hilft' eine lockere Gemeinschaft, ein Schwarm von Helfenden studentischen Ursprungs, der sich über die sozialen Netzwerke wie Facebook, Twitter und ein Blog selbst organisiert.

Das Ganze mit einer Geschwindigkeit und Effizienz, die nicht nur mich ehrfurchtsvoll mit den Ohren schlackern und mit großen Augen staunen lässt. JedeR ist eingeladen und willkommen zu helfen. Egal wie alt du bist und egal wo dein Ausweis wohnt: We are one Planet.

'Rostock hilft' bietet nicht nur eine zentrale Telefonnummer für die Koordination aller Hilfsaktivitäten, es gibt zudem planende und vorausschauende Versammlungen, Küchen, ein zentrales Spendensammel-Lager, Übersetzer*innen, Fahrdienste, Demonstrationen, Begleitung der Reisenden auf den Fähren, Konzerte, Empfang und Versorgung am Bahnhof ebenso wie am Fährterminal, Stullenschmieraktionen, Bustransporte, therapeutische Unterstützung für Helfende und und und ... 

Innerhalb kürzester Zeit hatte die Gruppe allein auf Facebook fast 10.000 (in Worten: Zehntausend!) Abonnenten.

Wer helfen und/oder spenden möchte, kann anrufen oder sich eintragen in Schichtpläne im Netz. Wenn es Lücken gibt, unbesetzte Schichten, plötzliche Notwendigkeiten à la „... wir haben genug Kuscheltiere, brauchen aber jetzt dringend Herrenschuhe und Rasierzeug …“ wird das flott und effektiv übers Internet verbreitet.

Irgendwie war es eher Zufall, dass ich dieses Netzwerk fast vom ersten Tag seines Bestehens an in meiner Timeline hatte. Zunächst habe ich Dinge gespendet – und weil ich kein Auto mehr habe, wurden meine großen, mit Decken, Kissen, warmen Jacken, Bettzeug, Medikamenten, Schokolade etc. prall gefüllten Rucksacktaschen flugs von netten jungen Menschen bei mir abgeholt. Innerhalb von nicht mal zwei Stunden. Zack und weg und weiter!

Dann entstand eine Notunterkunft ganz in meiner Nähe. "Wer Zeit hat und helfen möchte, bitte einfach vorbeikommen," hieß es. Ich hatte Zeit und wollte helfen und ging einfach vorbei. Das war Mitte September. Seitdem helfe ich einmal in der Woche, einen halben bis dreiviertel Tag lang: Aufräumen, Kleider sortieren, viel mit den Menschen reden. Ängste nehmen. Das ist nicht viel. Andere machen viel viel mehr. Aber das ist, was ich derzeit und mit längerfristiger Perspektive regelmäßig spenden kann: Meine Zeit, meine Empathie, meine Sprachkenntnisse, meine Erfahrung und Kompetenz im Umgang mit Menschen in schwierigen Lebenssituationen.

Was anderen hilft, tut auch mir gut.

Zum einen tut es gut, zu sehen, wie viele Menschen voller Hilfsbereitschaft sich in dieser Situation kompetent und engagiert einsetzen und geben, was sie können. Ich erweitere meine eigenen Netzwerke hier in meiner neuen Stadt.

Außerdem befriedigt es meine Neugier und besänftigt diffuse Ängste: Ich wollte und will wissen, wer da zu uns kommt – und ich lerne: 

Da kommt keine Flüchtlingskrise, 
sondern da kommen Menschen. 

Ganz wunderbare Menschen, die viel Schlimmes erlebt haben. Einzelne. Es sind viele auf einmal. Aber so ist das Leben. Es bleibt eine Herausforderung. Immer. Für die, die da kommen genauso wie für uns, die wir schon da sind.

Die angebotenen Hilfen reichen oft nicht aus. Logistisch. Menschlich. Finanziell. Wenn die Reisenden trotz zahlreicher Spenden zum Beispiel keine passenden Schuhe finden und barfuß in Badelatschen auf die Fähre nach Schweden müssen. Wenn es für das Wenige, das sie noch besitzen, noch nicht einmal mehr eine Reisetasche gibt und sie ihre kleine Habe in eine Plastiktüte packen müssen. Wenn es nicht genug Schlafplätze gibt, wenn sie in riesigen Turnhallen dicht an dicht ohne jegliche Privatsphäre übernachten müssen. Wenn es keinen Bus gibt vom Bahnhof zur Fähre oder vom Bahnhof zur Notunterkunft, wenn es dann heißt: Stundenlang warten in der Kälte. Wenn trotz Schichtplänen einfach nicht genug Menschen da sind zum Helfen und manche nach 36 Stunden non-stop-Hilfsdienst selbst zu Hilfesuchenden werden …

Niemand hat DIE Patentlösung. Aber ich spüre in dieser Stadt etwas sehr Wohltuendes: Ganz ganz viele Menschen sind daran interessiert, gute Lösungen zu finden – offiziell und inoffiziell; mit bester Kraft dazu beizutragen und mitzuwirken, dass es für die Newcomers, die Neuankömmlinge hier möglichst gut wird – und sie lassen sich weder behindern noch bremsen von restriktiven Politikern oder einem giftigen Gegenwind von rechts außen.

Das beeindruckt mich sehr.