Ein rundes Jahr bin ich nun schon hier im großen Betonhaus und kenne immer noch nicht alle Nachbarn. Klar habe ich anfangs mal eine Runde gedreht, geklingelt und – wenn überhaupt jemand geöffnet hat – mich vorgestellt. Auch, wenn ich neuen Gesichtern im Treppenhaus begegnet bin, habe ich freundlich gegrüßt und kurz erklärt, wo ich hingehöre.
Immer ausreichend Parkplatz |
Dabei habe ich festgestellt: Es gibt solche und solche. Wie überall. Ich habe wunderbare freundliche hilfsbereite griesgrämige herzliche müde neugierige menschliche Menschen um mich herum. Eine Zufallsgemeinschaft, in der kleine, wohlwollende Alltagsplaudereien entstehen. Das freut mich sehr. Es hilft mir dabei, Boden unter die Füße zu kriegen, mein Herz zu erden und die Antennen neu auszurichten.
Keine dicken Freundschaften dabei bislang, aber auch niemand wirklich Garstiges. Dachte ich erfreut. Bis neulich im Januar, als so lange Schnee lag.
Vor dem Haus gibt es hier viele viele Parkplätze. Mehr als genug, könnte man meinen. Die Parkplätze können bei der Wohnungsgesellschaft einzeln gemietet werden für kleines Geld: Für das eigene Auto, für den Zweitwagen und für wenn mal Besuch kommt. Direkt vor dem Haus an der Straße ist strenges Halteverbot.
Die Parkplätze sind nicht öffentlich und die Zufahrt wird durch eine Schranke geschützt. Um hineinfahren zu können, braucht man eine Chipkarte.
Als ich an diesem frühen Abend im Januar von der Arbeit nach Hause kam, es war schon dunkel draußen, begegnete mir einer der Nachbarn im Treppenhaus. Er kam heruntergestürmt, strahlte mich triumphierend an „Ich habe da draußen noch was zu erledigen!“ und wedelte mit Vertragspapieren. Nanu? Ja, da stehe jemand auf seinem Parkplatz, das gehe doch nicht. Er habe den Abschleppdienst bestellt.
Ja, das geht wohl wirklich nicht. Dass man etwas mietet, Geld dafür bezahlt und dann wird es von jemand anderem benutzt.
Von meiner Wohnung aus konnte ich beobachten, wie der Abschleppwagen den bösen Falschparker hinfort hievte. Es war nur ein Kleinwagen, der nicht nach reichen Eigentümern aussah, und war schnell geschehen. Fremdes Auto weg, wild blinkender Abschleppwagen weg, Parkplatz wieder frei für den wahren Besitzer.
Als ich eine gute Stunde später wieder mal kurz am Fenster stand und die Katze kraulte (die das Geschehen da draußen von der Fensterbank aus kontinuierlicher im Blick hat als ich), sah ich eine kleine zierliche Frau wohl ziemlich ratlos auf dem Parkplatz auf und ab laufen und vor einer freien Parklücke stehen, auf der IHR Auto nicht mehr stand.
Der Schnee auf diesem einen Parkplatz war noch unberührt wie frisch gefallen. Die Stelle sah nicht danach aus, als ob der Platz in den letzten vierzehn Tagen überhaupt genutzt worden sei. Geschweige denn ließ er ein eben erst vollzogenes Abschleppdrama erahnen.
Wie sie die Schranke passiert hat, weiß ich nicht. Aber die Dame hatte sich bei der Auswahl ihres Besucherparkplatzes wohl offensichtlich Gedanken gemacht und einen ausgewählt, der unbenutzt und unvermietet aussah. Weder waren Reifenspuren im Schnee noch war die Stelle vom Eis befreit wie bei anderen Stellplätzen, denen man die regelmäßige Nutzung deutlich ansah – auch wenn aktuell gerade kein Wagen dort parkte.
Aber nun hatte sie die Bescherung. Trotzdem. Suchte ihr Auto, fand es nicht, zweifelte an sich selbst und verzweifelte an der Welt – das Kopfkino kann ich mir lebhaft vorstellen. Am Ende standen sie dort vor dem leeren Parkplatz zu sechst, alle ratlos und kopfschüttelnd mit erleuchteten Smartphones in frierenden Händen.
Da war nicht nur der Abend verdorben, sondern womöglich auch ein dickes finanzielles Loch in ein knappes Budget gerissen.
Ich stand oben, sah ratlos hinunter und fragte mich, warum mein Nachbar so radikal reagiert hatte. Musste er gleich den größtmöglichen energetischen und finanziellen Schaden anrichten? Einfach nur so aus Prinzip, weil er im Recht war? Hätte es ein mehr oder weniger freundlicher Zettel mit einer klaren Ansage als Warnschuss nicht auch getan, damit das nicht wieder vorkommt? Dem Ort des Geschehens war ja anzusehen, dass es sich nicht um eine Wiederholungstäterin handelte, die ihm ständig den eigenen teuer bezahlten Parkplatz besetzte, so dass er nicht wusste, wohin mit der eigenen Limousine.
Oder ist der Nachbar vielleicht selbst der Besitzer (oder Neffe Onkel Schwager Teilhaber) des Abschleppdienstes und nutzte die Chance, um innerfamiliären Umsatz zu generieren?
Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass – falls ich jemals wieder ein Auto besitzen sollte – ich meinen Parkplatz nicht direkt vor dem Haus mieten werde, sondern lieber ein paar -zig Meter weiter weg. Ich habe nicht vor, der freundlichen Nachbarschaft als rund um die Uhr zu beobachtendes Überwachungsobjekt zu dienen.
Der Nachbar übrigens, der da so auf sein den persönlichen Besitzstand wahrendes Mietrecht gepocht und seinen Parkplatz vom unerwünschten Parasitenparker grob und teuer hat befreien lassen – der hat selbst gar keinen Wagen. Es war das erste Mal in dem Jahr, das ich hier nun schon lebe, dass sein Parkplatz dort unten überhaupt genutzt wurde.